Großkraftwerke sind von gestern

Unsere zentrale Energie­versorgung ist nicht das Ergebnis technischer Notwendigkeiten, sondern politischer Entscheidungen.

Es hat alles dezentral angefangen: Von New York bis Berlin waren die ersten Stromgeneratoren eher klein und bedienten einen einzelnen Häuserblock. Gegen 1890 fochten Thomas Edison und George Westinghouse einen Kampf aus, der als „Stromkrieg“ in die Geschichte eingegangen ist. Edison pries die Vorteile von Gleichstrom (DC) aus seinen kleinen, dezentralen Generatoren. Sein Konkurrent setzte dagegen auf Wechselstrom (AC). Westinghouse wollte an den Niagarafällen ein riesiges Wasserkraftwerk bauen und damit New York mit Strom über Fernleitungen versorgen – und das ging damals nur mit Wechselstrom. Denn die Übertragungsverluste in einer Fernleitung waren damals wesentlich kleiner, wenn man mit Hochspannung arbeitete.

Westinghouse hat den Kampf gewonnen. Das Großkraftwerk am Niagara wurde gebaut, und Wechselstrom regiert heute die Welt. Er begünstigte die zentralisierte Versorgung. Doch durchgesetzt haben sie Politiker und große Firmen.

Als Anfang des 20. Jahrhunderts die Entscheidung für Wechselstrom gefallen war, hätte man theoretisch durchaus neben großen Kraftwerken außerhalb der Städte noch kleine, dezentrale Generatoren betreiben können. Die kleinen sind vor allem nützlich, weil ihre Abwärme leicht dafür genutzt werden kann, Gebäude zu beheizen und Wärme für industrielle Prozesse bereitzustellen. Die Technik der Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) ist noch heute unschlagbar effizient, da dort bei der Verbrennung bis zu 90% und mehr der eingesetzten Energie in Strom oder Wärme umgewandelt wird. Konventionelle Großkraftwerke sind hingegen rechte Energieverschwender, bei denen mehr als die Hälfte der Energie in Form von Abwärme verloren geht.

Doch Firmen wie das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk RWE saßen auf riesigen Kohlevorkommen, die man zu Geld machen wollte. Die großen Energieversorger expandierten, indem sie kleine Stadtwerke verdrängten. Man bot der Stadt den Strom einfach billiger an, als das Stadtwerk ihn lieferte. Obendrauf schlug man eine „Konzessionsabgabe“: eine Prämie für jede vom Versorger erzeugte Kilowattstunde Strom, die in die Kassen der Stadt floss. Als Sahnehäubchen wurde zu guter Letzt wichtigen Politikern ein Beiratsposten beim Energieversorger angeboten, für den üblicherweise eine lukrative Aufwandsentschädigung gezahlt wurde. Die Stadt verzichtete also auf ihre eigenen kleineren Kraftwerke, bekam aber über die Konzessionsabgabe trotzdem Einnahmen. Der große Versorger war ebenfalls zufrieden, weil er immer mehr Strom verkaufen konnte. Die kleinere Konkurrenz wurde geschluckt. Noch 1911 gab es 2504 Stromversorger in Deutschland. Zwei Jahrzehnte später waren es halb so viele.

Im Nachkriegsdeutschland ging die Konzentration weiter. Vor rund zehn Jahren teilten die vier größten Versorger rund drei Viertel des Markts unter sich auf. Dieses Oligopol war entstanden, weil die Kraftwerke selbst immer größer wurden. 1964 wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Bau von kleineren Kraftwerken (kleiner als 300 Megawatt) erschwerte. Die Politik forcierte also bewusst eine Zentralisierung, die technisch gar nicht notwendig war. 1962 waren noch mehr als die Hälfte aller Kraftwerke in Deutschland kleiner als 200 Megawatt, im Jahre 1984 war es nur noch ein Fünftel. Investitionen in Großkraftwerke konnten sich nur große Firmen leisten, und somit verdrängten sie kleinere Wettbewerber völlig vom Markt.

Die Entwicklung war das Ergebnis knallharter Lobbyarbeit der großen Versorger. Die Taktik ist immer die gleiche: Erst werden die Kleinen zur Aufgabe gezwungen; ist der Kuchen erst aufgeteilt, werden die Preise erhöht.

Haushalte subventionieren den Strom für die Großen

Allerdings nicht für Großabnehmer. Viele Industriekonzerne betrieben früher ihre eigenen Kraftwerke. Die Versorger boten auch ihnen Strom günstiger an, als die selbst ihn produzierten. Die industriellen Kunden könnten – anders als die privaten Haushalte – aber jederzeit abspringen und zurück zur Eigenproduktion wechseln, wenn der Strom vom Versorger zu teuer würde. Für die Versorger gab es also zwei Arten Kunden: Die einen hatten die Eigenversorgung als Option, die anderen nicht. So begann eine bis heute gängige Praxis: Haushalte und kleinere Firmen, die sich nicht selbst versorgen können, subventionieren den Strom für die Großen. Seit Jahrzehnten zahlen Haushalte in Deutschland rund sechs Mal mehr für eine Kilowattstunde Strom als die größten Konzerne.

Das Geschäftsmodell „Klein subventioniert Groß“ hat sich für die Versorger lange Zeit ausgezahlt. In der Branche spricht man von „captive customers“, gewissermaßen von „unverlierbaren Kunden“. Ein Industriebetrieb konnte sich schon immer eine Gasturbine mit 20 MW Leistung anschaffen. Aber was sollte ein Haushalt oder Kleinbetrieb früher machen?

Genau dieses Geschäftsmodell ist heute hinfällig. Seit der Liberalisierung des Strommarktes in Deutschland vor fast 20 Jahren kann jeder Kunde seinen eigenen Stromanbieter frei wählen. Doch diese Freiheit nutzen – leider – die wenigsten. Daher bereitet weniger der Verlust von Kunden an die Konkurrenz den großen Energiekonzernen Kopfschmerzen. Die eigentliche Gefahr droht an anderer Stelle: auf dem Dach und im Keller.

Haushalte können heute ihren Strom mit der eigenen Solaranlage für rund elf Cent die Kilowattstunde selbst erzeugen – das ist die Hälfte dessen, was Strom aus der Steckdose kostet. Dies ist auch ein unbeabsichtigter Nebeneffekt des Geschäftsmodells der Großversorger: Die überhöhten Preise für Endverbraucher machen erneuerbare Energien für sie zur einer günstigen Option. Betriebe können die Dächer und Fassaden ihrer Werkstätten und Fabrikhallen komplett mit Solarmodulen verkleiden, Landwirte die Dächer ihrer Scheunen. Etliche Bauern stellen Windräder auf ihre Äcker und Biogasanlagen auf ihre Höfe, sie werden zu Energiewirten.

Das gilt nicht nur in Deutschland. In den USA versuchen zurzeit viele Stromversorger, die Haushalte daran zu hindern, Solar aufs Dach zu packen, indem sie extra Gebühren für den Netzanschluss verlangen oder den bestehenden Netzanschluss entfernen, sobald man Solar installiert hat. Sie haben begriffen, dass alles auf dem Spiel steht, denn auch sie praktizieren noch das Geschäftsmodell „Klein subventioniert Groß“. In den USA dominieren weiter die alten Monopole; rund 85 Prozent der Haushalte können den Stromversorger noch nicht frei wählen. Solarstrom vom eigenen Dach kommt da für die Amerikaner wie ein Befreiungsschlag. Endlich sind US-Haushalte nicht mehr den Energiekonzernen ausgeliefert. Und im sonnigen Australien könnte das Stromnetz in absehbarer Zeit für viele Bürger überflüssig werden: Gespeicherter Solarstrom dürfte bald die günstigste Stromquelle sein.

Ein Äquivalent zum Handy

Erleben wir also bald eine Zeit, in der jeder seine Energie selbst erzeugt und große Anlagen und Netze abgebaut werden können? So einfach ist das nicht. Von Deutschland über die USA bis Australien warnen viele Experten – auch solche, die die Energiewende gutheißen – vor einer sozialen Schieflage: Erst springen die wohlhabenden Eigenheimbesitzer mit Solardach vom Netz ab. Dann wird das Netz für alle anderen teurer, weil die gleichen Fixkosten auf weniger Schultern verteilt werden müssen. Doch wir brauchen moderne, leistungsfähige Netze, auch in einer von erneuerbaren Energien dominierten Zukunft.

Sie müssen aber intelligent werden. Denn Verbraucher und Produzenten werden kleinteiliger, dezentraler, ja sie verschmelzen zu „Prosumern“: Alle können in Zukunft Energie verbrauchen und zugleich selbst erzeugen. Keiner ist nur Konsument, wenn er nicht will. Intelligente Netze müssen da ständig den Ausgleich schaffen zwischen schwankendem Angebot, der Nachfrage und den Speichern. Elektrische Fahrzeuge wollen geladen werden, wenn es einen Überfluss an grünem Strom gibt; Haushalte wollen Strom ans Netz verkaufen, wenn das Netz Strom braucht. Große Stromversorger, die überleben wollen, können ein neues zukunftsfähiges Geschäftsmodell in den Dienstleistungen für das Management dieser intelligenten Netze finden.

Und Entwicklungsländer, die noch kaum Stromnetze haben? Können arme Länder im Stromsektor manche Stufen der technischen Entwicklung überspringen? Ein Beispiel für dieses sogenannte Leap­frogging ist der Mobilfunk: Viele Afrikaner, die vergeblich auf einen Festnetzanschluss gewartet hatten, besitzen inzwischen längst ein Handy. Wenn das Stromnetz die Entsprechung zum Festnetz ist, wären die erneuerbaren Energien das Äquivalent zum Handy?

Die Entwicklung wird hier etwas anders aussehen. Aber grundsätzlich eröffnen die erneuerbaren Energien auch und gerade Entwicklungsländern neue Chancen. Auf dem Land ist ein Stromnetzanschluss oft viel zu teuer und stellt weit mehr Strom bereit, als arme Menschen ohne viele Haushaltsgeräte oder gar Industrie benötigen. Von Bangladesch, wo mehrere Millionen Solaranlagen auf Hausdächern installiert sind, bis Indien und Subsahara-Afrika, wo Dörfer ihre eigenen Mini-Stromnetze bauen, liefern gerade Sonne und Wind genug Strom für den ersten Bedarf. Später können sich diese Dörfer den Ausbau ihrer Mininetze selbst leisten. Kommt das nationale Netz irgendwann, dann ist es ein leichtes, es mit dem lokalen zu verbinden.

Mehr noch: Die Erneuerbaren Energien geben Menschen eine Chance, sich mit Technologien vertraut zu machen, die künftig wichtig sein werden. Man installiert und wartet ja die Systeme selbst. Es geht um viel mehr als den Klimaschutz: um eine sich selbst tragende Bewegung, die gleichzeitig für Capacity Building sorgt, Ungleichheit bekämpft und die Umwelt und das Klima schützt.

Vor hundert Jahren ließ die Entscheidung für Wechselstrom und gegen Gleichstrom eine gewisse Zentralisierung vernünftig erscheinen. Mächtige Firmen haben dann die Politiker dazu gebracht, diese Zentralisierung auf die Spitze zu treiben. Heute haben wir andere Optionen. Erneuerbare Energien sind nicht nur unendlich, sondern auch unendlich skalierbar. Unzählige kleine Anlagen addieren sich zu einem großen Kraftwerkspark. Von dezentralen Anlagen profitieren die Menschen in vielfacher Weise. Die Zeiten der alten, zentralen Kraftwerke sind vorbei.

 

Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Craig Morris und erschien in Welt-Sichten. Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit. Ausgabe 12/2016: Energie für alle

 

Beitragsbild von michaeltk (CC BY-SA 2.0)

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