Ob wir auf kurzen Wegen das Rad oder das Auto nutzen, hängt von den Rahmenbedingungen ab. Der Umbau der Verkehrsinfrastruktur erfordert politische Entscheidungen – von der Gesetzgebung bis zur Realisierung.
Von Saskia Ellenbeck und Arne Jungjohann
Rund 4,8 Millionen Pkw fuhren 1960 über deutsche Straßen. Heute sind es knapp zehnmal so viele. Diese Massenmotorisierung war seit den späten 1950erJahren erklärtes Ziel der Verkehrspolitik. Dafür wurden Straßen und Parkraum massiv ausgebaut, Kilometerpauschale und Dienstwagenprivileg eingeführt und das Straßenverkehrsrecht so formuliert, dass das Auto im Mittelpunkt der Planung steht. Maßnahmen zur Beschränkung des fließenden Verkehrs – gemeint ist immer der KfzVerkehr – müssen seither begründet werden und sind nur innerhalb eines sehr eng definierten Rahmens möglich. Mittlerweile spricht sich jedoch eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung für eine Verkehrswende aus. In rund drei Dutzend Städten engagieren sich lokale Initiativen, sogenannte Radentscheide, um den Rad und Fußverkehr zu stärken. Zu ihren Forderungen gehören breite und geschützte Radfahrstreifen an Hauptverkehrsstraßen, der Umbau von gefährlichen Kreuzungen, ein Netz an Radschnellwegen durch die Stadt sowie ausreichende und gesicherte Abstellanlagen.
Auch das Thema Flächengerechtigkeit spielt eine wichtige Rolle: Gerade in den Städten ist der Platz begrenzt, und immer weniger Menschen wollen es hinnehmen, dass der gemeinsame Lebensraum vor allem auf die Bedürfnisse von Autofahrerinnen und fahrern abgestimmt ist, etwa in Form von Parkplätzen. In einer Umfrage des Automobilclubs ADAC unter Bewohnerinnen und Bewohnern von Großstädten sind 42 Prozent der Befragten dafür, zu Fuß Gehenden und Radfahrenden mehr Fläche zu Lasten des Autoverkehrs zu geben, und nur 19 Prozent dagegen. Den Wunsch nach einer neuen Verkehrsinfrastrukturpolitik ergänzen neuere Erkenntnisse der Verkehrsforschung. Sie beschreibt unter dem Begriff des induzierten Verkehrs den Zusammenhang zwischen Infrastruktur und Verkehrsbelastung. So wurde unter anderem ermittelt, dass der Autoverkehr insgesamt abnimmt, wenn Straßen oder Parkplätze zurückgebaut werden. Diese Einsicht bietet die Chance für einen Paradigmenwechsel in der Stadt und Verkehrsplanung.
Trotz positiver Impulse kommt die fahrradgerechte Neuausrichtung der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland nur langsam voran: Die geltende Rechtslage erschwert den zügigen Bau einer guten Radinfrastruktur, und das Straßenverkehrsgesetz ist ein reines Gefahrenabwehrrecht. Auch fehlen verbindliche bundesweite Qualitätsstandards. Zwar liegen mit den von der Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen verfassten Empfehlungen für Radverkehrsanlagen unverbindliche Designstandards vor, auf die zahlreiche Kommunen bislang zurückgegriffen haben. Doch sie basieren auf dem nicht mehr zeitgemäßen Ansatz, die Planung an bestehenden Verkehrsströmen auszurichten – nicht aber, Menschen jeglichen Alters für den Umstieg auf das Rad zu gewinnen. Städte wie Kopenhagen machen es vor, dass fahrradgerechte Verkehrsinfrastrukturen – zum Beispiel komplett von Autospuren getrennte Fahrbahnen für den Radverkehr – mehr Menschen aufs Rad locken. Obendrein fehlt in den Verwaltungen das Personal zum Umsetzen ehrgeiziger Ziele und komplexer Vorhaben wie beispielsweise der Intermodalität, also der intelligenten Verknüpfung verschiedener Verkehrsmittel. Ausgeschriebene Stellen können wegen des Mangels an Fachkräften nicht besetzt werden. Um mehr Planerinnen und Planer mit entsprechender Expertise auszubilden, fördert die Bundesregierung seit Anfang 2020 an sieben Hochschulen Stiftungsprofessuren für Radverkehr. Damit die Verkehrswende schneller vorankommt, sind die verschiedenen politischen Ebenen gefragt. Der Bund kann als Rahmengesetzgeber die jahrzehntelange einseitige Bevorzugung des Autos im Straßenverkehrsrecht beenden. Durch Maßnahmen wie die verpflichtende Einführung eines Abbiegeassistenten für Lkw kann er die Sicherheit für Radfahrende erhöhen. Zudem kann er Radschnellwege, Modellprojekte und seit dem Klimapaket auch gute Radinfrastruktur innerorts fördern.
Landesregierungen können diese Mittel mit eigenen Programmen ergänzen und Synergien für ihre Kommunen und Landkreise schaffen – etwa indem sie Beratungsstellen aufbauen, die bei der Antragsstellung, der Projektentwicklung und der Qualitätssicherung helfen. Städte und Kommunen müssen schließlich die Radverkehrsnetze vor Ort planen und umsetzen. Sie profitieren von klaren bundeseinheitlichen Vorgaben und Anreizen. Die kompakte Stadt der kurzen Wege ist eine klimafreundliche, resiliente und lebenswerte Stadt. Öffentlicher Raum wird in ihr nicht nur auf seine Funktion als Transitort reduziert, sondern als Ort der Begegnung angelegt. Ein gutes Radwegenetz ist zentral für das Gelingen der Verkehrswende und der sozialökologischen Transformation insgesamt.
Dieser Artikel stammt aus dem Infrastrukturatlas, den die Heinrich-Böll-Stiftung im November 2020 veröffentlicht hat. Der Text steht unter CC BY 4.0 Lizenz. Die Infografiken dürfen für eigene Zwecke genutzt werden, wenn der Urhebernachweis Infrastrukturatlas | Appenzeller/Hecher/Sack CC-BY-4.0 in der Nähe der Grafik steht.